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Zeitzeugen – Wilfried Rahe, geb. 1941

Wilfried war bei Kriegsende dreieinhalb Jahre alt. Glück habe er gehabt, sagt er, dass er in ganz ländlichen Gegenden groß geworden sei. Auch dort gab es Krieg, aber im Vergleich zu den Städten seien sie relativ verschont geblieben. Bei Fliegeralarm mussten sie in eine Art Schacht, die Pütt. Seine älteren Brüder, die sich noch direkt erinnern konnten, erzählten immer, dass er bei dem Transport hinein in den Bunker recht gut geschlafen habe. Ob das jedoch wirklich ganz ohne Spuren geblieben sei – das wisse er nicht.

Die ersten eigenen Erinnerungen kommen, als der Krieg dann zu Ende war und die Engländer kamen, an der Straße vorbeiziehend. Sie wurden von den Müttern freundlich empfangen und waren auch freundlich, gerade zu den Kindern.

Was ihm vermittelt wurde, in der Adenauer Zeit aufwachsend, in einem katholisch konservativen Umfeld? Der böse Hitler habe den Krieg angefangen, er habe einige Gehilfen gehabt, böse Männer, aber die meisten Deutschen seien doch redliche Leute. Gott sei Dank sei der Krieg vorbei und jetzt habe man neue Freunde, die Engländer und die Amerikaner, und die beschützen uns. In dieser Welt sei er groß geworden.

Ergänzt wurden dann immer die Russen – die seien ganz gefährlich. Wer Pech gehabt habe und von Russland erobert wurde, da gab es Vergewaltigungen, alles ganz schlimm, und die deutschen Soldaten dort in Kriegsgefangenschaft, die seien ganz schlimm behandelt worden. Hingegen im Westen, da sei das nicht so gewesen.

Nichts davon habe er anfangs in Frage gestellt. Die Mutter erzählte von den russischen Kriegsgefangenen, die ihr zugeteilt worden seien, zum Umgraben des Gartens. Ganz ohne schlechtes Gewissen, das war damals so, sie habe sie auch gut behandelt, für alle in einem großen Topf Eintopf gekocht. Dies prägte sein Bild – wir seien doch die Anständigen gewesen, hätten sie besser behandelt. Und Russland mit Stalin jetzt, das sei ganz schlimm. Erst später habe er gelesen, dass wir Deutschen die russischen Kriegsgefangenen viel schlechter behandelt hätten als damals umgekehrt, dass bei uns viel mehr Russen verhungert seien in Gefangenschaft als umgekehrt Deutsche in russischer Gefangenschaft. So sei sein Weltbild langsam etwas in Frage gestellt worden.

Nach der Schulzeit, beim Studium von Latein und Theologie in Münster, begann er die konservative Adenauer Welt grundlegender in Frage zu stellen. Die Diskussionen in seiner Studentenzeit empfand er als sehr offen, mit ihm als vergleichsweise Konservativem, mit Vertretern der beginnenden 68er Bewegung, in deren Augen er ein „hoffnungsloser Reaktionär war“. Niemals aber habe er sich ausgegrenzt gefühlt, man habe diskutieren können, über alles. Tschechische Marxisten seien eingeladen worden um mit katholischen Theologen zu diskutieren. Das Klima war sehr offen, und auch sein Weltbild öffnete sich, dahingehend, dass das Kommunistische nicht zwangsläufig das Böse sein müsse.

In den 80er Jahren fing er an sich zu engagieren – erst für die Ökologie, dann für Frieden und Ökologie. Der Bericht des Club of Rome habe ihn zunächst geprägt, die Grenzen des Wachstums, das könne doch nicht so weitergehen. Und wie selbstverständlich sei die Friedensfrage dann dazu gekommen. In linkskatholischen Kreisen sei er zuhause gewesen, engagiert bei Pax Christi, in Opposition zu den Bischöfen, um das Thema Frieden zu aktualisieren und die herkömmlichen Freund-Feind Bilder in Frage zu stellen.

Diese Zeit, auch die Teilnahme an den großen Friedensdemonstrationen in Bonn, das habe ihn in der Friedensfrage geprägt. Er erinnert sich an Heinrich Bölls Auftritt, da habe er etwas ganz Großes erwartet. Heinrich Böll aber sagte dann einfach aus persönlicher Betroffenheit ein paar Sätze, das sei sehr eindrücklich gewesen. Geprägt hätten ihn Leute wie der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter und Carl Friedrich von Weizsäcker, der Bruder des späteren Bundespräsidenten. Der damals auch die Atomfrage, die Doktrin der Abschreckung analysierte und in Frage stellte. Wie wackelig dies sei, das sei ihm durch diese Leute klar geworden.

Im Vergleich zu heute waren damals Viele auf den Straßen – und es war ganz anders. Damals waren es die Jüngeren, das waren die Treibenden. Und offensichtlich habe sich dies komplett geändert. Die Jüngeren fänden heute nichts mehr dabei – wobei jetzt die Gefahr aus seiner Sicht sogar größer sei. Dass das nicht gesehen würde, für ihn sei das unfassbar. Woran es wohl liege, dass man damals die Gefahren gesehen und thematisiert habe und hunderttausende auf die Straßen gingen, und heute nicht, gerade nicht bei den Jüngeren, das habe er noch nicht verstanden.

Die Spannungen vor dem russischen Überfall habe er sehr genau verfolgt. Schon Monate vorher hätten die wichtigsten Forderungen Russlands, insbesondere nach Neutralität der Ukraine, auf dem Tisch gelegen. Wie die meisten habe er nicht geglaubt, dass es tatsächlich zu einem Angriff kommen werde. Aber die Gefahr war ja da, und der amerikanische Geheimdienst habe offenbar diesmal die richtigen Informationen gehabt. Tage vorher sagte dieser den Angriff voraus. Aus seiner Sicht hätte da ganz anders reagiert werden müssen. Wenn man doch weiß, da droht ein Krieg, da müsse doch der amerikanische Präsident sich ins Flugzeug setzen und reden, um das zu verhindern. Zwar wurde geredet – aber über die wichtigsten Forderungen Russlands, Neutralität und Abzug der Raketenbasen, da hätte der Westen nicht mal verhandeln wollen. Also könne man sagen, dass man den Krieg zumindest billigend in Kauf genommen habe – ja vielleicht sogar manche mehr als nur billigend.

Was die berühmte Zeitenwende von Scholz angeht, ein paar Tage später – er konnte es nicht glauben. Wie kann der Bundeskanzler mit wenigen Vertrauten an einem Wochenende beschließen, das wir mal eben für 100 Milliarden zusätzlich rüsten sollen? Das darf doch nicht wahr sein, dachte er, sonst streitet man sich wochen- und monatelang um zehn Milliarden, ob wir die haben oder nicht, und jetzt plötzlich: 100 Milliarden. Da müsse wirklich eine Zeitenwende vorgegangen sein, in den Köpfen. Für ihn völlig irrational.

Und so ging es dann weiter. Dann las er später im Spiegel: Die Ukrainer hatten Erfolge. Russland sei gar nicht so stark. Der Westen, die Ukrainer könnten den Krieg gewinnen. Aber wenn es so sei, dass Russland vergleichsweise schwach sei, warum müssen wir dann Hunderte von Milliarden in Rüstung stecken? Für ihn völlig unlogisch, irrational. Da müsse etwas passiert sein in den Köpfen, das er mit dem Verstand nicht nachvollziehen kann.

Wenn er mit den Leuten geredet habe, da kam immer eine Antwort, und er wusste gleich, wie sie es sehen. Wen als erster Satz „Aber Putin …“ kam, dann wusste er Bescheid. Es gibt einen neuen Teufel, den Putin, und der ist so gefährlich, dass wir alles tun müssen, auch einen Atomkrieg riskieren. Denn der Teufel persönlich ist es oder zumindest ein zweiter Hitler, der ganz gefährlich ist, obwohl er so schwach ist, der wird dann auch noch Westeuropa erobern, nach und nach. Diese Irrationalität ist für ihn unfassbar.

Wie man die Gefahr eines Atomkrieges als so gering einschätzen könne, im Vergleich zu der Gefahr eines Sieges von Putin, das versteht er nicht. So zum Beispiel Petra Gerster, ehemalige ZDF-Reporterin und ehemals von ihm sehr geschätzt. Sie wurde gefragt, ob sie denn keine Angst habe vor dem Atomkrieg. Ja, ja, schon auch, sei ihre Antwort gewesen, aber Putin, dass der gewinnt, das hielte sie für viel gefährlicher. Warum reagieren kluge Menschen plötzlich so, und können Gefahren nicht mehr realistisch einschätzen, fragt sich Wilfried.

Da müsse etwas passiert sein in den Köpfen, mutmaßt er. Aber was? Offensichtlich sei es so, dass die Menschen, insbesondere die Jugend, jetzt weiter weg sind, als damals in den 80ern, das müsse einen Unterschied machen. Ihm fällt auch auf, dass die sogenannten Experten, die im Fernsehen auftauchen, von diesen „Sicherheitsdenkfabriken“, oft junge Frauen sind. Junge, attraktive Frauen, die für den Krieg trommeln, das ist für ihn ganz neu. Was ist da los?

Unfassbar sei es. Die Politiker gäben es vor. Pistorius – kurz vorher war er noch Oberbürgermeister von Osnabrück, der Friedensstadt des Westfälischen Friedens. Und jetzt fordert er noch viel mehr Geld für die Aufrüstung, um in fünf bis acht Jahren für den Krieg gegen Russland bereit zu sein. Was solle er dazu sagen? Die sind alle irre geworden! Wie kann man in so kurzer Zeit so einen Schwenk machen, und das gerade als SPD Politiker, die doch mal eine Friedenspartei waren. Willy Brandt und Egon Bahr, die hatten ihn damals so langsam weggebracht aus der konservativen Ecke. Und wie kann man als Parteigenosse das alles vergessen?

Und am schlimmsten habe er empfunden – und das war für ihn total überraschend – wie plötzlich die Grünen eine Kehrtwende machten, um 180 Grad. Selber war er bereits in der Anfangsphase der GAZ – Grüne Aktion Zukunft – in seinem Landkreis dabei gewesen. Die Entwicklung danach, die Aufspaltung in ÖDP und Grüne und wie es weiterging, das habe er immer mitverfolgt und es sei für ihn selbstverständlich gewesen, dass auch die Grünen eine Friedenspartei waren. Beim Wahlkampf hatten sie doch sogar noch plakatiert: Keine Rüstungsexporte in Kriegsgebiete! Er kann nicht nachvollziehen, was da passiert ist, auch wenn es sich damals mit Joschka Fischer und Jugoslawien schon etwas angedeutet hatte. Extrem krass sei es dennoch, wie sie jetzt auf Krieg setzen, total irrational, ein einseitig-engstirniges Denken. Man habe jetzt den ausschließlichen Blick auf Putin und Krieg, vergessend, dass man ja auch noch eine ökologische Partei ist.

Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung – das gehört aus seiner Sicht zusammen, das kann man nicht trennen. Die krassen Gegensätze – wenn man die Welt retten will, muss das angegangen werden, und genauso das Thema Frieden. Wenn er König von Deutschland wäre – was er tun würde, wurde er unlängst im Internet gefragt. Sinngemäß habe er da geantwortet: Erstens: Sofort alle Waffenlieferungen einstellen und Verhandlungen starten. Wie könne es sein, dass das Wort „Verhandlungsfrieden“ ein Tabu sei bei uns. Unbegreiflich sei es, bei unserer Vergangenheit, die wir über 30 Millionen Sowjetbürger auf dem Gewissen haben, zu sagen: Das Wichtigste ist, dass jetzt Raketen nach Moskau kommen. So ein Irrsinn! Mit diesen Aussagen – Kiesewetter war es wohl – da müsse Putin ja gar keine Propaganda mehr machen, er müsse nur Kiesewetter im russischen Fernsehen im Original zeigen. Von Parteien, die ehemals für Frieden waren, müsse man doch Verhandlungsinitiativen erwarten. Und außerdem, z.B. Brasilien, viele afrikanische Staaten – die sehen das ganz anders. Warum hört man nicht auf die, die einen weiteren, unbefangeneren Blick haben? Ansonsten: Das Thema Gerechtigkeit und Ökologie weiterverfolgen und den Zusammenhang sehen.

Was er der Jugend raten würde? Er selber hat Kinder, er hat als Lehrer ehemals Kinder unterrichtet. Was heute in den Schulen los ist, das würde ihn interessieren. Als Religionslehrer habe er das Thema Frieden behandelt. Wie die Jugend heute denkt? Er weiß es nicht. Aber er würde sie daran erinnern, dass sie doch die Gefahr sehen mögen, diejenigen, die als Fridays for Future auf die Straße gingen und die Welt retten wollten. Was nutzt das, wenn wir in einer Katastrophe enden? Dass man das nicht sieht, wenn man eskaliert, dass eine Atomkriegsgefahr besteht. Ob es denn wirklich wichtiger sei, dass zwei oder drei Provinzen zukünftig wieder von ukrainischen statt von russischen Oligarchen beherrscht werden? Ist das denn unser Hauptthema?

Nicht verhandeln und stattdessen weiter zu eskalieren, das müsse aus Sicht der Jugend doch als einfach dumm erkennbar sein. Wenn die Jugend sich Gedanken macht um die wirtschaftliche Zukunft, um Inflation? Das Schlimmste ist doch dann, weiter zig Milliarden in einen sinnlosen Krieg zu pumpen.

Er bleibt dabei: Was da los ist, wie diese Wende in den Köpfen so schnell geschehen ist, das ist für ihn ein einziges Rätsel.