Tür 9

Advent, Advent, ein Lichtlein brennt

Liebe Mitmenschen, lasst uns doch ein Adventslichtlein entzünden, obwohl es draußen dunkelt. Denn wenn es dunkelt, erhellen wir die Welt, auch wenn sie selbst noch zögert.

Was haben wir nicht alles ausgehalten, seit dem März 2020? Was war es doch düster in uns geworden? So düster, dass wir lange Abende überlegten, wohin wir gehen könnten. So düster, dass wir uns trafen, mitunter im Verborgenen, um unsere Ressourcen zu bündeln, angesichts unserer Not. Dies alles, wo diese Not ja für den überwiegenden Teil der Menschen nicht zu fassen war. Es war eine Not, die daraus entstand, den Glauben an die Menschheit verlieren zu müssen.

Nie vergesse ich, wie ich in der Mitte des Märzes dieses unsäglichen Jahres 2020 aus einer Eingebung heraus, dem Internet die Ansprache der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel entnahm und bestürzt meinen Ohren kaum trauen wollte. Ganz offensichtlich war unsere Regierung willens, uns!, seinem eigenen Volk, Unrecht anzutun. Ich setzte meine Lieben in Kenntnis und wurde meiner Unrast gewahr. Was könnten wir tun, um das gigantische Unrecht anzuhalten, das im Begriff war, über uns ausgeschüttet zu werden? Ich sah, wie – offenbar vorsätzlich – unzählige Unternehmen dem Untergang geweiht wurden, ich sah, wie wir unsäglicher Menschenrechtsverletzungen entgegenrauschten und ich wünschte mir inständig, dass die Kinder unserer Welt verschont blieben. Ich wünschte und betete mit Nachdruck, doch mein Wunsch war scheinbar niemandem Befehl.

Ich erinnere mich, wie ich an einem dieser Märztage besonnene Gespräche mit Menschen führen konnte, von Hörer zu Hörer, auf den Straßen und überall. Bald schon sollten mich einige von ihnen in die grässlichste aller Schubladen ablegen, die den Menschen einfällt. In diejenige, in die all jene sortiert werden, die sich gar zu uneinsichtig zeigen: in die rechtsgehaltene. Noch hörten sie meine Argumente! Noch hielten ARD und Süddeutsche Zeitung nicht dagegen.

Ich erinnere mich meiner Verzweiflung, als ich einen geschätzten Pfarrer aufsuchte. Ich vernahm seine Bemühung, seinen Ton zu mäßigen. Er schien gefangen in seiner übermächtigen Erregung über mein gar eigenwilliges Denken und erkannte in mir die personifizierte Unsolidarität. Meine Erkundigungen zu christlichen Fundamenten – sie blieben unerwidert. Ich erinnere mich des Verlustes meines geschätzten Kammer-Musiker-Kollegen, der sich an seinen Anschuldigungen mir gegenüber scheinbar geradewegs berauschte.

„Und bist du nicht willig“ …

Es war kaum zu ertragen, wie nahezu das gesamte persönliche und gesellschaftliche Umfeld geschichts- und selbstvergessen und oft mit derart viel Schwung, dass es beinahe körperliche Gebrechen meiner Magengegend hervorrief, der öffentlichen Parole hintendrein eilte. Dies immer, ohne dass es erlaubt gewesen wäre, Mechanismen zu benennen, deren Parallelität zu allen dunklen Epochen der Menschheit sich aufdrängte. Wer das tat, der musste hart gesotten sein. Aber so ist es, in dunklen Epochen der Menschheit. „Die Welle“, die Welle… umsonst hatten wir sie studiert in unseren Klassenzimmern.

Ich versuchte währenddessen, weiter zu tun, was ich tun konnte. So wagte ich mich hinaus, dorthin, wo andere Menschen bereits strammstanden, bereit, zu diffamieren, bis es nichts mehr zu diffamieren gab. Ich wünschte mir, dass mein Vorgehen denjenigen das hintendrein Folgen erleichtern könnte, die größere Sorgen vor möglichen Konsequenzen verspürten, als ich. Liebe Menschen, es waren nicht viele. Aber wenn es auch nicht viele waren, waren es eben Menschen, die sich durch ihr Vertrauen in ihren eigenen Kompass, unter all den vielen anderen, so deutlich hervortaten.

Jetzt neigt sich das Jahr wieder seinem Ende zu. Im Moment gelingt es nicht leicht, den Grad an sittlichem und demokratischem Verfall zu quantifizieren. Seine Offenkundigkeit ist in den Hintergrund gerückt. Er ist wohl da, wie könnte er plötzlich verschwunden sein, ohne dass ein Wort verloren wurde, wo Worte zu verlieren gewesen wären? Doch er scheint verschleiert. Nun, wo die Menschen langsam Schritte aufeinander zu tun, wenn auch stumm in wesentlichen Angelegenheiten; wo sie die oft unermesslich traurigen Realitäten feststellen, die wir in einer Vorausschau prognostizierten; jetzt, wo wir uns beinahe wieder frei bewegen können, aber dennoch hören, von angekündigten Gesetzesvorhaben auf internationalem Niveau, die das Maß an Demokratie keinesfalls erhöhen werden, sondern in alter Weise und stattdessen, neu aufblühende Bilanzierungen einflussreichster Unternehmen – nun, wo es trotz allem wieder Advent wird, möchte ich meine Freude über diejenigen Menschen mit Euch teilen, die nach großer Seelenqual am Ende eine Entscheidung trafen, die ihnen erlaubte, mit sich ins Reine zu kommen.

Die Schäflein, dem Glockenschlage nach

Es ging in diesem Frühjahr 2020 auf das höchste Fest der Christen zu. Es wurde Ostern und das Glockenschlagen wurde mir unerträglich. Die Heiligkeit unserer Kirchen, ob katholisch oder protestantisch, die nur mehr im Scheine existiert, forderte Solidarität von ihren Schäflein, wollte diese aber selbst nicht mehr einlösen – was einer Beleidigung der gesamten Christenheit gleichkam.

Es wurde immer schlimmer. Es kam der Tag, an dem unsere Zustimmung zur Parole öffentlich eingefordert wurde: Die Regierungen besaßen die Unverfrorenheit, ihrem Volk eine Maskenpflicht aufzuerlegen. Für sich selbst bemühten sie diese Gesichtsverhüllung nur anlässlich öffentlichkeitswirksamer Auftritte. In diesen Masken, die alle Welt sich ins Gesicht heftete, entfaltete sich die Chiffre der Parole zur Neuen Normalität. Der Neuen Normalität, die man uns unterbreitete und zur Norm erhob, der wir niemals zugestimmt haben. Denn erinnern wir uns: es waren keine parlamentarischen Entscheidungen, die unsere Verfassung beschnitten, bis nichts mehr übrig war, was von unseren Verfassungsvätern an Wesentlichem konstituiert wurde; es waren „Kanzlerinnenrunden“ – ein Konstrukt, das just aus dem Nichts für diesen Ausnahmefall der Katastrophe ohne belastbare Evidenz eingeführt wurde; ein Konstrukt, das den Verfall demokratischer Strukturen deutlicher herausstellte, als jedes andere Unrecht, das seither begangen wurde.

Ich war keinesfalls willens, an der Umsetzung von Verordnungen mitzuwirken, die dem Menschen nicht nur nicht mehr dienten, sondern seinen Bedürfnissen und seiner Würde zuwiderliefen. Diese Umsetzung der Menschen war conditio sine qua non für die Realisierung der Neuen Normalität. Ich wollte mich ihrer nicht schuldig machen. So erledigte ich unsere Besorgungen bar jeder Gesichtsverhüllung. Dass das mitunter zu dramatischen Begebenheiten führt, geschenkt! Jene, von der ich erzählen möchte, berührt mich bis heute tief.

Es gab einen Lebensmittelhändler in meiner Gegend, einem beschaulichen Orte im Oberbayerischen, der uns in der Anfangszeit dieser neuen, enthusiastisch vollstreckten, Maskenpflicht gleichwohl mit Lebensmitteln versorgte. Staunend erlebte ich den mannigfaltigen Ausdruck der Menschen in meinen Begegnungen. Oft in anerkennender Geste. Die Menschen schienen erleichtert, mitunter neugierig, wie das denn möglich sei – ein und ausspazieren, mit bloßem Antlitz.

Das Versteck

Gelegentlich freilich wurde ich Zeuge von Ausbrüchen der menschlichsten Art. Laut genug, um ihrem überwältigenden Ärger Raum zu verschaffen, doch ausreichend leise, um eine Konfrontation mit mir zu vermeiden, flüsterten sie Beschimpfungen aus ihren Kehlen. Ein aufregendes Mal suchte eine Frau gekrümmten Rückens selbstbewusst die Allianz mit anderen Kunden, die meiner Nacktheit im Gesichte gewahr wurden. Doch hurtig suchte sie das Weite in einem entfernter liegenden Regalflur, als diese vermeintlichen Verbündeten anhoben, ihren Beschimpfungen zu parieren. Liebe Menschen, das waren keine schönen Erlebnisse. Es waren prägende Erlebnisse.

Meine Haltung machte mich zur Beteiligten einer schwer verstörenden Sozialstudie, die unvergleichbar gründliche Einblicke zuließ. All diese Verwerfungen zeigten sich, obwohl wir unser gesetzlich legitimierendes Schreiben allezeit bei uns trugen. Dieses Schreiben, das uns von dieser, alle Maßstäbe menschlicher Übereinkünfte pervertierenden, Maskenpflicht befreite. Die Wut der Menschen aber, die sich ihr Bekenntnis zur Neuen Normalität Tag für Tag selbst abnötigten, raubte diesem Lebensmittelhändler, von dem ich oben sprach, Brief für Brief und Androhung, nach Androhung, seine Kraft. Es kam also der Tag – und ich fürchtete mich auf ihn hin, wohl ahnend, dass er kommen möge – an dem dieser Lebensmittelhändler uns offenbarte, uns den Zutritt zu seinem Geschäft für die Zukunft zu untersagen.

Seine Ankündigung schreckte mich trotz allem, hatte ich doch eine Schar Kinder zu versorgen, die ihren Hunger allzeit kundtaten. Ich brachte mein Entsetzen zum Ausdruck und fragte nach. Er legte mir dar, er wisse nicht mehr ein, noch aus. Am Ende seiner Fähigkeiten des Widerstehens angekommen, sehne er sich nach nichts anderem, als Frieden in dieser Angelegenheit. So gebe er nun dem gewaltigen Druck der Kundschaft nach. Ich hob an, meinen letzten juristischen Einwand anzuführen, um sein mögliches Einlenken zu prüfen: Seine Öffnung gegenüber der Öffentlichkeit als Einzelhandel der Lebensmittelgrundversorgung, die eine Diskriminierung Benachteiligter ausschloss; ein Argument übrigens, das richterlich mittlerweile längst getilgt wurde. Resigniert blieb er dabei – er könne nicht mehr. Es täte ihm aufrichtig leid. So zog ich nach Hause, um just einen Plan zu ersinnen, der uns die Versorgung mit Lebensmittel garantierte, bis uns ein Umstieg auf Lichtnahrung gelungen war.

Und so ging es fort. Es war so weit gekommen: kein Lebensmittelhändler in unserer fußläufigen Gegend war mehr übriggeblieben. Keiner gewährte uns Einlass, die wir unsere Zustimmung zur Neuen Normalität nicht kundtaten. Es folgten Monate unseres Ausschlusses aus der Gesellschaft. Sie schien nun fast komplett.

Doch es kam der Tag, an dem das Licht wieder einzog in unsere Herzen, wie das Licht wiederkehrt, nach einem langen Winter. Es war, als ich von Erzählungen vernahm, dass der Inhaber dieses Lebensmittelhandels immer stärker nachsann, wie er sich in Zukunft verhalten solle. Das Schicksal wollte unseren Kontakt wachsen lassen, der wechselseitige Perspektiven schenkte. Und so erreichte unser Haus eines himmlischen Tages eine persönliche Nachricht. Der Tag sei gekommen, an dem ich sein Geschäft wieder betreten dürfe – just, wie mir beliebe. Und so solle es auch bleiben! Die vergangene Zeit habe ihn sehr in Anspruch genommen. Nun war er zu der Entscheidung gekommen, einen Ausschluss gewisser Bevölkerungsteile aus seinem Geschäft nicht länger aufrechterhalten zu wollen.

Verschlungene Wege

Es gibt Menschen, die den Schmerz über ihren monatelangen Ausschluss bis heute nicht verwinden konnten. Ich selbst hingegen spüre eine noch gehörigere Freude, als sie mir zuteilgeworden wäre, hätte dieser Mann auf geradem Wege zu seiner Entscheidung gefunden. Denn: Wie viel wert ist ein Entschluss, den man sich von tief innen abgerungen hat? Wie oft verrät man seine Seele noch, nachdem man dort gespürt hat, welchem Zweck wir hier auf Erden wohl dienen?

Liebe Menschen, das ist meine Adventsgeschichte für Euch. Möge sie Euch Hoffnung stiften. Eine Umkehr ist immer möglich. Bei uns, bei anderen und in allen Angelegenheiten des Lebens. Wer sich bereithält, sein eigenes Tun fortwährend einer angemessenen Prüfung zu unterziehen, der wird mit Frieden im Innern beschenkt.

Ich wünsche einen frohen Advent.

Eure Lisa Marie Binder