Tür 7
Die 7. Adventsgeschichte
Im Moment wird viel darüber geredet, dass es Entschuldigungen geben muss für das Unrecht der Corona-Maßnahmen. Ich glaube nicht, dass ich eine Entschuldigung möchte, ich kann sowieso nicht vergeben. Was mir aber wichtig wäre, ist, dass aufgehört wird die Opfer der Corona-Maßnahmen zu marginalisieren.
Meine Geschichte beginnt am 26. März 2020, das weiß ich noch so genau, da es der 7. Geburtstag meines Sohnes war. Meine Mutter rief an, natürlich um ihm zu gratulieren, dann wollte sie mich noch sprechen. Sie entschuldigte sich, da es sein Geburtstag war, aber sie müsse ins Krankenhaus, da es ihr sehr schlecht ginge. Zu diesem Zeitpunkt waren wir seit 10 Tagen im Lockdown, ich in Bayern und sie in Berlin, ich beruhigte sie, dass es sicher nichts Schlimmes sei und bestimmt nur ihre Medikamente fürs Herz neu eingestellt werden müssten. Leider irrte ich mich, der Krebs war wieder da, er hatte sich schon ausgebreitet, Brust, Leber und Bauchspeicheldrüse waren betroffen, es sah nicht gut aus. Das alles erfuhr ich am Telefon, da es ein Besuchsverbot gab. Das was dann folgte war Folter, wir telefonierten jeden Tag mehrmals miteinander, sie verzweifelt und alleine, mich anflehend, dass ich sie besuchen möge, sie wolle sich doch verabschieden und ihren Enkel noch einmal sehen. Ich fing nach einigen Tagen immer an zu zittern, wenn das Telefon klingelte, ich hatte wieder keine guten Nachrichten, trotz aller Versuche eine Ausnahmegenehmigung zu erwirken. Die Sozialarbeiterin im Krankenhaus war wirklich engagiert, aber nur wenn der Tod absehbar gewesen wäre, hätte ich sie besuchen dürfen. So vergingen die Tage. Vormittags erst mit meiner Mutter telefonieren, dann Homeschooling mit dem Erstklässler, dann mit meiner Mutter telefonieren, danach Homeoffice, Abendessen machen, noch einmal mit meiner Mutter sprechen und dann völlig fertig ins Bett, schlafen konnte ich nicht. Am 16. April „feierte“ sie ihren 70. Geburtstag, alleine im Krankenhaus, und erfuhr wenig später, dass es keinerlei Heilungschancen gab, sie in ein Heim kommen soll und dort palliativ versorgt werden würde. Kurz hatten wir die Hoffnung, dass ich sie nach Bayern holen könnte, aber hier herrschte in den Pflegeheimen ein Aufnahmestopp, also half wieder die Sozialarbeiterin und fand ein Heim in Berlin. Endlich wurde verkündet, dass das Besuchsverbot aufgehoben wird! Am Muttertag, den 10. Mai 2020 sprach ich das letzte Mal mit ihr am Telefon und merkte, dass irgendwas nicht stimmte. Sie wirkte abwesend und wusste nicht einmal genau wer ich bin. Sie war nicht mehr ansprechbar als ich sie endlich besuchen konnte und ich weiß nicht, ob sie meine Anwesenheit überhaupt realisiert hat. Sie war damals noch im Krankenhaus und ich versprach ihr, dass ich bald wieder da sein würde. Es war das letzte Mal, dass ich sie sah.
In der Woche darauf kam sie ins Pflegeheim, in ein Einzelzimmer, Palliativstation und trotzdem zogen sie die 14tägige Quarantäne durch. Sollte sich ihr Zustand verschlechtern, würden sie mich anrufen, damit ich mich verabschieden könne, wurde mir gesagt. Am 24. Mai 2020, am frühen Morgen, kam der Anruf, dass meine Mutter im Schlaf verstorben sei. Als ich es meinem Sohn erzählte, war er fassungslos und wütend auf mich, weil er seine Oma nicht noch einmal besuchen konnte. Er gab mir die Schuld. Ich machte mir Vorwürfe, dass ich vielleicht nicht genug getan hatte. Freunde und Familie fragten immer, ob ich nicht mehr hätte tun können. Ich war am Boden zerstört. Dann kam die Nachricht, dass zur Beerdigung keine Gäste kommen dürfen. Wieder prasselten neue Vorwürfe auf mich ein, als wäre es meine Entscheidung, dass niemand meiner Mutter die letzte Ehre erweisen konnte. Ich bekam gesundheitliche Probleme und meine Ärztin meinte, das seien alles Symptome einer Überlastung. Sicher hat meine Mutter mehr darunter gelitten, aber auch in mir ist etwas kaputtgegangen. Oft hört man von Menschen, der Lockdown sei für sie nicht schlimm gewesen, aber es gibt sie, die Opfer, für die es die Hölle gewesen ist, die heute noch unter den Folgen leiden. Meine Geschichte ist nur eine von vielen und das Unrecht, das eindeutig geschehen ist, muss anerkannt werden, auch weil wir daraus lernen müssen, dass sich so etwas nie wieder wiederholt.
Anonym (uns bekannt)