Debattenraum 6.9.: Gewaltenteilung & die Rolle der Rechtsprechung

Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, so heißt es immer, aber an einem Tag im Februar 2022 in München ging es ganz schnell. Lediglich zwei Stunden lagen zwischen der Verabschiedung einer sogenannten Allgemeinverfügung und dem Einsatz der Polizei auf den Straßen in der Innenstadt. Die sollte Spaziergänger auseinandertreiben, die gegen die Corona-Maßnahmen protestierten. Dass die 36-seitige Allgemeinverfügung der Stadt München den Weg über die Amtsblätter ausließ und quasi über die Leuchtschrift-Banner auf den Polizeibussen veröffentlicht wurde, zeuge von einer beispiellosen Arroganz der Verwaltung gegenüber dem Rechtsstaat: So die kritische Meinung eines Juristen aus dem Publikum auf unserer fünften Veranstaltung der “Debattenräume”.

Das Abwägen von Grundrechten erfolgt in der Bundesrepublik normalerweise nicht im Zwei-Stunden-Takt und viele von uns haben selbst erlebt, wie drakonisch die Staatsmacht oft auf Kritiker der Corona-Maßnahmen reagierte. “Gewaltenteilung und die Rolle der Rechtsprechung” waren Thema unserer zurückliegenden Veranstaltung im September. Zwei Rechtsanwälte und ein suspendierter Polizeibeamter besetzten fachkundig unser Diskussionspodium.

Wird die Judikative in Deutschland derzeit ihrer Aufgabe im Sinne der Gewaltenteilung gerecht? Funktioniert “die Justiz”? Wie steht es um die Rechtsstaatlichkeit? So lauteten die Leitfragen des Abends. Jeder kennt die formelle Dreiteilung der Staatsmacht in gesetzgeberische Gewalt (Legislative), ausführende Gewalt (Exekutive) und rechtsprechende Gewalt (Judikative). Was viele nicht wissen, ist dass diese Dreigliederung in Deutschland nur unvollständig umgesetzt ist – und dass Deutschland 2009 deswegen sogar vom Europarat ermahnt wurde, diesen Mangel zu beseitigen und sich auf den Stand der anderen EU-Mitglieder zu bringen. Denn tatsächlich ist die Justiz hierzulande (sowie in Österreich und der Tschechischen Republik) nur begrenzt unabhängig, denn sie ist organisatorisch den Regierungen und Ministerien von Bund und Ländern unterstellt, die u.a. wichtige Personalentscheidungen treffen.

In der Belastungsprobe, die für den Rechtstaat in Form der Corona-Maßnahmen kam, zeigten sich die Mängel der unvollständigen Gewaltenteilung besonders eklatant. Der suspendierte Polizeihauptkommissar berichtete von einer Gerichtsverhandlung, der er als Prozessbeobachter beiwohnte. Es ging um einen vergleichsweise geringfügigen Verstoß während einer Anti-Maßnahmen-Kundgebung. Was ihn frappierte, war, wie sich der als Zeuge geladene Einsatzleiter der Polizei und die Richterin im unübersehbar besten Einvernehmen die Bälle zuspielten – zuungunsten des Angeklagten. Seine Einschätzung: “Mit der Gewaltenteilung liegt vieles im Argen.” Er selbst habe als Polizist zu Beginn der Pandemie zunächst intern Kritik an den überzogenen Maßnahmen geäußert. Als dies nicht fruchtete, habe er auf Demonstrationen gesprochen. Obwohl Beamte sich in der Bundesrepublik seit jeher und andauernd als Privatpersonen politisch äußerten und als Parteimitglieder politische Ämter wahrnehmen, sei er aus dem Dienst entfernt worden, zweifellos eine “politische Entscheidung”.

Der Anwalt auf dem Podium sieht nicht das ganze Rechtssystem in der Krise – Arbeitsrecht und Zivilrecht funktionieren aus seiner Sicht gut. Allerdings habe es schon vor Corona Probleme bei Verfahren im Verwaltungsrecht gegeben, welche die Neutralität von Richtern fragwürdig erschienen ließ, etwa in der Praxis, Beweisanträge für die banalsten Sachverhalte zuzulassen.

Es blieb die Frage, was gegen die unvollständige und zuletzt zusätzlich aufgeweichte Gewaltenteilung in Deutschland unternommen werden kann. Die Macht der (Regierungs-)Parteien auf die Judikative müsse reduziert werden, lautete mehrfach eine Forderung aus dem Publikum. Justizreformen können auch gelingen, hieß es von einer anderen Teilnehmerin, die auf das positive Beispiel von Spanien verwies, das die Unabhängigkeit seiner Richter wieder hergestellt habe. Von zwei Gästen kam der Ruf nach einer neuen Verfassungsdiskussion, gemäß Artikel 146 des Grundgesetzes, das diese Diskussion im Falle einer Wiedervereinigung ohnehin vorgesehen hat. Deutlich wurde im “Debattenraum”, dass noch viel zu tun ist. “Schlagstockfreigabe” und Jagd auf Spaziergänger sollten sich nicht wiederholen. Und anstelle des von Juristen gerne zitierten Spruches “Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand” wünschen sich die Teilnehmer ein Rechtssystem, das Pluralität, Neutralität und dem Geist des Grundgesetzes verpflichtet ist.

Wer Interesse hat, etwas tiefer in das Thema einzusteigen, der könnte im Netz Inspiration finden auf https://www.gewaltenteilung.de sowie bei Friedemann Willemer, Vom Scheitern der repräsentativen Demokratie: Eine demokratische Tragödie, Frankfurter Literaturverlag, 2020.